Antrag: Sozialindex und Bildungsbericht für Niedersachsen - Einführung eines wissenschaftlich validen Sozialindex für eine gerechte bildungspolitische Planung und Verteilung von Ressourcen

Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90 Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Bildungserfolg hängt in Deutschland noch immer stark von familiären Ressourcen ab. Laut OECD[1]-Studien zählt Deutschland zu den Ländern, in denen der Bildungserfolg von Kindern besonders stark von der Bildung und den ökonomischen Ressourcen ihrer familiären Herkunft abhängt. Internationale Vergleichsstudien wie z.B. PISA und IGLU[2] zeigen bis heute, mehr als 20 Jahre nach dem "PISA-Schock", dass die soziale Herkunft von Kindern entscheidend ihre Bildungschancen beeinflussen. Bildungschancen werden in unserem Schulsystem also nach wie vor in erheblichem Maß sozial "vererbt". Kinder aus einem akademischen Elternhaus haben hierzulande deutlich höhere Chancen auf einen akademischen Bildungsweg als Kinder, deren Eltern selbst keinen Hochschulabschluss haben. Das hat zuletzt der neue ifo-„Ein Herz für Kinder“-Chancenmonitor[3] ergeben. Zahlreiche andere Untersuchungen kommen zu demselben Ergebnis.

Die Entwicklung und Einführung eines wissenschaftlich validen Sozialindexes für eine gerechte bildungspolitische Planung und Verteilung von Ressourcen eröffnet die Möglichkeit, aussagekräftige Daten für eine bedarfsgerechte Ressourcenverteilung für alle Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen des Landes bereitzustellen. Der Sozialindex ist ein Instrument, die Auswirkungen sozioökonomischer Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern zu erfassen. Ein schulscharfer Sozialindex ist ein Instrument, um Schulen in besonderen sozial-ökonomisch herausfordernden Lagen gezielt zu unterstützen, Ressourcen zielgenauer verteilen bzw. zusätzliche Ressourcen für herausfordernde Arbeit zur Verfügung zu stellen. Ein schulscharfer Sozialindex ist somit ein wichtiger Schritt für mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit.

Der individuelle Bedarf einer Schule sollte verlässlich festgestellt werden, anhand einheitlicher, messbarer Kriterien wie z. B. schulgenauer Daten zur Zusammensetzung der Schülerschaft. Anstatt Schulen ‚mit der Gießkanne‘ zu fördern, haben sich die Bundesländer 2007 selbst dazu verpflichtet, ungleiche pädagogische Ausgangslagen auch in der Schulfinanzierung ungleich zu behandeln. Um die schulischen Bedarfe oder aber auch akute Mehrbedarfe systematisch ermitteln zu können, bedarf es landesweit einheitlicher Indikatoren wie z. B. soziale-ökonomische Benachteiligung, die mit kleinräumigen Daten hinterlegt werden, um auf dieser Basis über eine zusätzliche Förderung zu entscheiden.

Diese Daten für eine bedarfsgerechte Planungs- und Ressourcensteuerung können dazu eingesetzt werden, sozial-ökonomische Benachteiligung entgegenzusteuern.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir:

  • Den kontinuierlichen Ausbau schulischer Sozialarbeit in Landesverantwortung.
  • Die regelmäßig veröffentlichte Statistikbroschüre „Die niedersächsischen allgemein bildenden Schulen – Zahlen und Grafiken“, die Vergleichswerte und Zahlen aus der Erhebung zur Unterrichtsversorgung an allgemein bildenden Schulen jeweils zum Stichtag im ersten Schulhalbjahr für die öffentlichen sowie die von freien Trägern betriebenen allgemein bildenden Schulen enthält.
  • Die Fortschreibung der Broschüre „Die niedersächsischen berufsbildenden Schulen in Zahlen“, die Zahlen und Vergleichswerte zum Stichtag der Erhebung 15.11.2022 (Schuljahr 2022/2023) für die öffentlichen berufsbildenden Schulen sowie die berufsbildenden Schulen in freier Trägerschaft bereitstellt.
  • Die jährliche vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung herausgegebene handlungsorientierte Sozialberichterstattung Niedersachsen (HSBN), die schwerpunktmäßig einen Überblick zu Armut und Armutsgefährdung in Niedersachsen bietet.

Der Landtag bittet die Landesregierung:

  1. Einen wissenschaftlich fundierten Sozialindex für die öffentlichen allgemeinbildenden Schulen zu implementieren, das als Instrument für eine bedarfsgerechte Ressourcenzuweisung dient und dabei auch für die Auswahl der Startchancenschulen zur Anwendung kommen soll. Dabei sollten verschiedene schulscharfe Daten, die verschiedene sozial-ökonomische Aspekt berücksichtigen, genutzt werden.
  2. Zu prüfen, wie sozialräumliche Daten aus dem Umfeld der Schulen den Sozialindex auch bei der Entwicklung weitergehender Maßnahmen ergänzen können. Hierzu gilt es Gespräche mit den Kommunen aufzunehmen, damit sozialräumliche Maßnahmen besser mit den Bildungseinrichtungen vernetzt werden können.
  3. Den Index so zu gestalten, dass er mit möglichst geringem Aufwand für die Schulen aus den vorhandenen Daten ermittelt werden kann. Die geplante schrittweise Einführung einer einheitlichen Schulverwaltungssoftware kann hier eine weitere Hilfestellung sein, über die schulspezifische Daten erfasst werden können.
  4. Mit dem Instrument des Sozialindex Schulen in herausfordernden sozial-ökonomischen Lagen mit zusätzlichen Ressourcen und Personal aus dem Startchancen-Programm des Bundes zu unterstützen. In diesem Zuge ist auch zu prüfen, wie diese Schulen kleinere Klassen bilden können und wie eine umfangreiche sprachliche und sonderpädagogische Förderung sowie der Ausbau bzw. die Weiterentwicklung der Arbeit in Multiprofessionellen Teams ermöglicht werden kann.
  5. Angebote und Maßnahmen zu entwickeln, um Schulen mit besonderen Herausforderungen zu vernetzen und einen Erfahrungsaustausch zu gestalten, um sie in ihrer Schulentwicklung zu unterstützen.
  6. Die regelmäßige Überprüfung/Evaluation der Steuerungselemente bzw. der Indikatoren des Sozialindexes im 5-Jahres-Turnus unter Einbeziehung von Experten und Expertinnen aus Politik, Wissenschaft, Fachverbänden, Vertretungen marginalisierter Gruppen bzw. Communities, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen sowie Gewerkschaften vorzunehmen und daraus ggf. eine Aktualisierung und Weiterentwicklung abzuleiten. Hierbei gilt es auch prozessbegleitend eine methodische und inhaltliche Weiterentwicklung der Indikatoren und Entwicklungsziele sowie daran orientierter Maßnahmen sicherzustellen.

Begründung

Schulen, die viele Schüler*innen aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen besuchen, sind pädagogisch besonders herausgefordert, da sie Lernrückstände aufarbeiten und ein benachteiligtes Umfeld kompensieren müssen. Ein bewährtes bildungspolitisches, national und international eingesetztes Instrument, um Benachteiligungen zu begegnen, ist die sozialindikatorenbasierte Ressourcenverteilung. Diese beinhaltet die Ermittlung schulscharfer Daten über die Schüler*innenschaft nach sozio-ökonomischen Aspekten sowie sozialräumliche amtliche Daten, um darauf aufbauend den einzelnen Schulstandorten passgenau Ressourcen zuzuweisen.

In Niedersachsen bekommen Schulen bisher nur mehr Stellen, wenn sie besondere Sprachangebote (Deutschklassen o. Ä.) anbieten oder Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben. Mit der Einführung eines Sozialindexes wird ein Instrument zur Ressourcensteuerung entwickelt, das auf der einer validen Datengrundlage beruht. Hierbei werden verschiedene sozialraumbezogene und schulische Indikatoren gebildet. Bei der Auswahl der Kriterien kann man sich gut an Bundesländern Bremen, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen orientieren, die bereits einen Sozialindex eingeführt haben. Auch Baden-Württemberg macht sich gerade auf den Weg, einen schulscharfen Sozialindex zu erarbeiten. Darum wäre es sinnvoll als einen Indikator in jedem Fall die Dichte der SGB II-Quote (SGB II = Zweites Buch Sozialgesetzbuch) der Minderjährigen im Schulumfeld (z. B. Quote der Sozialhilfeempfänger im Schulumfeld) zu verwenden. Ebenso kann bei dem Sozialindex der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit eigenem Zuzug aus dem Ausland berücksichtigt sowie eine Auswertung der Situation und der Entwicklungen in der inklusiven Bildung, insbesondere für Maßnahmen und Angebote der Prävention und der Förderung im Bereich der Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache einbezogen werden. Der Anteil an (Neu)Zugewanderten könnte z.B. über den Sprachlernbedarf der Schülerinnen ermittelt werden.

Personelle Ressourcen können somit auf Basis von Daten, die die Standortbedingungen der einzelnen Schulen widerspiegeln, zugewiesen werden. Auf dieser Basis könnten Schulen in sozial-ökonomisch schwieriger Lage bereits im Rahmen der Grundausstattung automatisch mehr Lehrerstellen erhalten als Schulen in weniger sozial-ökonomisch benachteiligten Regionen und Stadtteilen. Auch könnten zusätzliche Stellenkontingente über einen Sozialindex verteilt werden. Hierzu braucht es kleinräumige Sozialdaten bzw. schulscharfe Daten zur sozioökonomischen Zusammensetzung der Schülerschaft. Zugleich hängt die Qualität der schulischen Daten direkt von der Qualität der Dateneingabe in die Schulverwaltungssoftware ab, daher ist es wichtig hier entsprechende Leitfäden und Fortbildungsangebote anzubieten.

Um das Bildungssystem in Niedersachsen zukunftsfähig weiterzuentwickeln, ist eine umfassende indikatorengestützte Analyse über alle Bildungsbereiche und -stufen hinweg notwendig. Diese bildet die Grundlage für eine landesspezifische Analyse des Bildungsgeschehens, aus denen Empfehlungen für die Bildungspolitik formuliert werden können. Ein Bildungsmonitoring kann die landesspezifischen Befunde und Entwicklungen in allen Bildungsbereichen für Niedersachsen aufzeigen und als Steuerungsinstrument dienen.

Da sich die Struktur der Regionen und Städte verändert, muss die soziale Lage regelmäßig überprüft und überarbeitet werden. Ein regelmäßiges Bildungsmonitoring und ein darauf aufbauender Bericht macht die Entwicklung der zentralen Bildungsbereiche sichtbar. Zugleich können Handlungsfelder bzw. Herausforderungen markiert werden. Eine regelmäßige Aktualisierung sowie eine differenzierte Evaluation der Maßnahmen, die auch emotionale und soziale Effekte bei Schüler*innen und deren Lehrkräften thematisiert, ist wünschenswert. Darüber hinaus scheint eine differenzierte Analyse des Einflusses von Sozialindikatoren auf die Lernentwicklung von Schüler*innen auf verschiedenen Ebe­nen (Individual-, Subgruppen-, Schulebene) besonders lohnend. Im Sinne eines partizipativen Ansatzes sollten, ähnlich wie beim Handlungsorientierten Sozialbericht Niedersachsen (HSBN) sollten Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Schule, Kommunen, Gewerkschaften und Verbände sowie marginalisierter Gruppen und Communities bei der Weiterentwicklung der Indikatoren des Sozialindexes sowie der Definition von handlungsorientierten Entwicklungszielen und daran orientierten Maßnahmen einbezogen werden. Dies trägt zu einer nachhaltigen Qualitätssicherung bei und verdeutlicht, dass regionale Herausforderungen auch regional angepasste Lösungen erfordern. Zugleich gibt ein solcher Bericht Auskunft darüber, ob und inwieweit die bundesweiten Entwicklungen sich in Niedersachsen abbilden und in welchen Bereichen sich landesspezifische Besonderheiten identifizieren lassen. Nach diesem Verständnis ist ein Bildungsmonitoring eine zentrale Grundlage für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung von Bildung, Betreuung und Erziehung, in dem Bevölkerungs- und Strukturdaten mit Schul- und Jugendhilfedaten verknüpft werden und eine regionale Auswertung ermöglichen. Bildungsmonitoring und Bildungsbericht bilden die Ausgangsbasis und solide Datengrundlage für eine zielgerichtete Bildungsplanung bzw. können sie der Steuerung der Bildungsinvestitionen sowie perspektivisch zur qualitativen Weiterentwicklung des Gesamtsystems von Bildung, Betreuung und Erziehung für das Land Niedersachsen beitragen.  

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